Die Begleitung braucht ein körperliches Verstehen!

Aus dem Newsletter

Vor ein paar Jahren gab es für mich in Bezug auf das ANS nur den Sympathikus und den Parasympathikus. In meinen Aus- und Weiterbildungen hat sich jedoch mein Blick mit Hilfe der sog. Polyvagal-Theorie auf das menschliche Nervensystem verändert bzw. erweitert. Dieses Wissen über das autonome Nervensystem ist zu einer der Grundlage meiner Arbeit mit Eltern und ihren Kindern geworden.
Die Beobachtungen und Forschungen von Stephen W. Porges zur Polyvagal-Theorie zeigen, dass es entgegen bisheriger Annahmen nicht nur zwei Handlungsmuster gibt (Anspannung und Entspannung), sondern drei: Der Parasympathikus ist auf zwei unterschiedlichen Pfaden unterwegs und ermöglicht so zwei Handlungsmuster. Der eine Pfad ist der ventrale Vagus (Beruhigung) und der andere der dorsale Vagus (Abschalten, Erstarren). Es gibt demnach drei Handlungsmuster, die unser ANS ermöglicht: Anspannung, Entspannung und Erstarrung/Rückzug.

Was kann dies für die Arbeit mit Eltern und ihren Kindern bedeuten?

Wir alle, die mit Babys und Kleinkindern arbeiten, kennen die Bezeichnung „Regulationsstörungen“.
Ich bin überzeugt, dass bei der Regulation bzw. ihren Störungen das Polyvagal-System des Babys oder Kleinkindes eine Rolle spielt und dass seine verschiedenen Handlungsmuster körperlich wahrnehmbar und zu verstehen sind.
Eine körperliche Beobachtung der Reaktionen, die durch die Vagus-Pfade ausgelöst werden, kann uns als Therapeut*innen und Eltern unterstützen, eine Funktion der Co- Regulation in Bezug auf das Baby zu übernehmen. So können wir die Kinder dabei unterstützen, (wieder) einen Weg zu einer gesunden Regulation zu finden (Homöostase).

Was sollten wir über die drei Nervenpfade wissen?
Der Sympathikus wittert Gefahr und fordert uns auf wegzurennen oder anzugreifen, um die Gefahr abzuwehren. Wird dieser Pfad bedient, schrumpft die Fürsorge- und Empathiebereitschaft zu uns selbst und unseren Mitmenschen. Unsere Muskeln sind angespannt und der Atem wird flach, die Verdauungsorgane werden auf Sparflamme versorgt.
Der ventrale Vagus wird auch der soziale Nerv genannt. Er verläuft auf der vorderen Seite des Körpers und sorgt dafür, dass wir in Verbindung zu uns selbst und anderen Menschen gehen können. Der ventrale Vagus sorgt z.B. für eine gesunde Herzfrequenz, einen Wärme-Kälte-Ausgleich und er ist zuständig für einen funktionierenden Darm sowie einen gesunden Muskeltonus.
Der dorsale Vagus ist dann aktiv, wenn wir in Lebensgefahr sind. Der dorsale Vaguspfad bedeutet die Möglichkeit, in einen Shutdown zu gehen. Das führt bei unserem Organismus zu Ohnmacht, Immobilität und Dissoziation. Es werden nur noch die absolut lebensnotwendigen Organe versorgt. Die (Ver)Bindung zu uns und unseren Mitmenschen ist abgebrochen.
All diese Funktionen der einzelnen Pfade sind von großer Wichtigkeit und Hilfe für das menschliche Dasein.

Wir alle haben eine frühe Geschichte mit unserem autonomen Nervensystem, das beim menschlichen Fötus ab der dritten Schwangerschaftswoche ausgebildet wird. Schauen wir uns nun das Polyvagal-System im Kontext zur Bindungsbereitschaft und Bindungserfahrung von Babys und Kleinkindern an.

Ventraler Vagus:
Eltern die Sicherheit, Schutz, Wärme, körperliche und psychische Gesundheit erfahren, können mit sich und ihrem Kind in Verbindung sein. Krisen, Anpassungen und Herausforderungen im Leben können gut gemeistert werden (Resilienz). Die Fürsorgebereitschaft ist im grünen Bereich. Das ventrale System der Eltern signalisiert dem Baby: Du bist sicher, du bist geliebt und versorgt.

Sympathikus:
Fehlen Mutter und Vater Sicherheit (sozial und ökonomisch) und Gesundheit (physisch und psychisch), stehen die Eltern überwiegend unter dem sympathikotonen Einfluss. Der Körper signalisiert Gefahr; Bindungsbereitschaft und -fähigkeit nehmen ab. In der Begleitung der Familien beobachte ich unruhige und schreiende Säuglinge, Babys mit Darmkoliken und Schlafproblemen; Kinder, die Nahrung verweigern, einen hohen Muskeltonus haben und Spielunlust zeigen.

Dorsaler Vagus:
Erlebt die Mutter unter der Geburt zu viel Stress, Gewalt (Schmerzen), Übergriff und Schock, übernimmt der dorsale Vagus die Regie. Die Reziprozität (wechselseitiges Bezug nehmen/in Beziehung sein) zwischen Mutter und Kind reißt ab. Bei Babys und Kleinkindern, die unter solchen Erlebnissen geboren wurden, beobachte ich häufig eine sehr flache Atmung (Zwerchfellblockade), „Roboterbewegungen“, starke Unruhe, blasse Haut, Schock in den Augen oder Kontaktvermeidung (Dissoziation).

Das Wissen über neurophysiologische Phänomene und das “mapping” während der Begleitung meines eigenen Polyvagal-Systems ermöglichen mir, die Eltern aus Angst, Wut und Ohnmachtserleben mit ihren Kindern zu begleiten. Dies wiederum ermächtigt die Eltern, ihren Kindern mit einer Co-Regulation zu begegnen. Kinder lernen dann: ich werde gesehen, verstanden und es ist „ok“, so wie ich bin.
Diese Co-Regulation in der Begleitung mit Eltern und ihren Kindern ist vergleichbar mit einem Equalizer: Eine komplexe Feinabstimmung von Empfindungen, Gefühlen, Emotionen, gesellschaftlich und subjektiven Bindungsdynamiken. Ich bin davon überzeugt, dass die Bindungsarbeit mit den Müttern/den Vätern und den Kindern diese körperpsychotherapeutische Präsenz braucht.

 


Die SchreiBabyAmbulanz-Wuppertal
 
Die Begleitung der Eltern mit ihren Babys und Kleinkinder braucht ein körperliches Verstehen!
Vor gar nicht allzu langer Zeit sind noch viele Erwachsene davon ausgegangen, dass Babys während ihrer Zeit in der Gebärmutter, während und nach der Geburt keine Empfindungen und Gefühle haben.
Durch das heutige Wissen über prä-, peri- und postnatale Phänomene und Prozesse im Körper hat sich unser Blick auf unseren Körper und die Psyche verändert.
 
So wissen wir heute, dass langanhaltender Stress, Schock und Trauma in der Schwangerschaft und der frühen Kindheit den Körper und die Psyche eines Menschen belasten bzw. nachhaltig schädigen können.
Das Gute ist, je früher diese Verletzungen bei Babys und Kleinkindern wahrgenommen, verstanden und begleitet werden, desto besser kann sich die kindliche Resilienz entwickeln, und die Vulnerabilität eines Menschen bleibt im „Normal-Bereich“.
 
In meiner Arbeit erlebe ich immer wieder Eltern, die nervlich am Ende sind. Dann ist eine kognitive, nur auf Verstehen beruhende Beratung zu kurz gegriffen. Dieser oft versperrte Weg zur Kognition hat nichts damit zu tun, dass die Eltern nicht gebildet oder ignorant sind, sondern weil der Mensch, der unter Stress oder Schock steht bzw. große Angst hat, keinen bis wenig Zugang zum kognitiven Bereich seines Gehirnes hat.
 
Wenn Sie im Kampf- oder Fluchtmodus sind, können Sie nicht für eine Prüfung lernen.
 
Begleite und unterstütze ich die Eltern in der Gegenwart, feinfühlig und aufmerksam mit den Empfindungen des Körpers, bekomme ich sehr genaue Informationen.
Die Eltern beschreiben oft sehr detailliert, was sie fühlen und empfinden, wenn ihr Baby schreit oder kurz davor ist anzufangen.
Dieses Körperwissen ermöglicht auch einen individuellen Zugang zu Stresserfahrungen der Eltern und Babys.
Viele beschreiben eine Enge in der Brust, ein Zusammenziehen im Bauch, Hitze im Kopf, Kribbeln und Anspannung im ganzen Körper usw. Manche empfinden den Drang, einfach weglaufen oder das Baby irgendwie ausschalten (schütteln) zu wollen, damit endlich Ruhe ist.
 
Eine gefährliche, paradoxe Situation entsteht. Unser Körper signalisiert uns durch das limbische System im Gehirn „lauf weg“ oder „greif“ an. Und das Baby braucht gerade jetzt Zuwendung und Beruhigung.
 
Messungen zeigen, dass das Schreien eines Babys auf das gleiche Dezibel-Niveau ansteigen kann wie ein Presslufthammer (120 dB) oder ein Düsenjet (130 dB). Und es lässt sich nicht einfach abschalten.
Diese hohe Belastung des Nervensystems kann unseren Organismus schädigen. Dies kann bis zu Schlafstörungen, Ess- und Verdauungsstörungen, Depressionen, Psychosen, Herz- und Kreislaufproblemen bei den Eltern führen. Sehr verständlich, wenn Eltern alles tun, dass dieses Schreien aufhört bzw. erst gar nicht anfängt.
 
Doch sie merken sehr schnell, dass Ablenkung durch Füttern, Zäpfchen in den Po, Maxi-Cosi mit Kind auf die Waschmaschine stellen, Federwiege, mit dem Auto herumfahren nur von kurzer Dauer ist, bis das Schreien wieder anfängt und manchmal noch lauter als zuvor.
Nachhaltig und gesund geht es nur mit Zuhören, Verstehen und Begleiten des Babys und der Eltern.
Stellen Sie sich vor, Sie sind wütend, traurig, haben etwas Schlimmes erlebt, über das Sie sprechen müssen, oder Sie möchten sich einfach nur an der Schulter eines vertrauten Menschen ausweinen.
Doch dieser vertraute Mensch, von dem Sie sich Empathie und Mitgefühl erhoffen, Trost und Verständnis, bietet Ihnen ständig etwas zu essen und zu trinken an, will Sie mit Dingen ablenken, ist körperlich angespannt und hart oder textet Sie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu und/ oder will beschwichtigen. Wie fühlen Sie sich in Ihrer Wut, Trauer, Verzweiflung?
 
Werden Kinder in ihrem psychischen Schmerz, in ihrer Wut, Trauer und Verzweiflung von ihren Eltern gespiegelt, gehalten und in der Tiefe verstanden, kann das Erlebte emotional, psychisch und physisch verarbeitet werden.
Das Kind erfährt Sicherheit, Vertrauen, Liebe, fühlt sich in seinem So-Sein angenommen und “lernt” den Weg in ein körperliches Wohlbefinden.
 
Das kann gelingen, wenn Eltern die Angst vor dem Schreien ihrer Kinder überwinden und wenn sie lernen zu bleiben, zu verstehen und zu begleiten.
In einer körperorientierten Schreibabyambulanz ist Raum dazu.

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